Liebe Endzeitgenossen! Wir sind hier zusammengekommen, um der Toten der drei Weltkriege zu gedenken. Daß unsere Kraft nicht ausreicht, um uns diese Millionen wirklich vorzustellen und um uns den euren Klagelärm, den die Summe der Abermillionen Todesschreie ergeben würde, wirklich zu hören, das wissen wir ja. Was können wir da tun, um ihrer dennoch zu gedenken?
Mir scheint, uns bleibt nichts anderes übrig, als daß jeder von uns versuche, eines Toten zu gedenken, eines einzigen. Aber wenn möglich eines, der nicht zu seinen persönlichen Toten gehört.
Der eine gedenke eines zerstrahlten Kindes in Hiroshima.
Der andere einer verbrannten Frau in Dresden.
Der dritte eines vergasten Juden in Auschwitz.
Der vierte eines im Ozean ertrunkenen Amerikaners.
Der fünfte eines im Gestapokeller Zusammengeschlagenen.
Der sechste eines gemarterten Algeriers.
Der siebente eines in Stalingrad zu Eis erstarrten Russen.
Der achte eines Kindes, das morgen zerstrahlt daliegen wird.
Der neunte eines Matrosen, der morgen ertrinken wird.
Der zehnte eines Kindes, das morgen nicht mehr das Licht der Welt erblicken wird.
Jeder versuche, eines zu gedenken, eines Gewesenen oder eines Künftigen. Vielleicht, daß die Summe unseres Gedenkens und unserer Trauer dem nahekommen wird, was wir eigentlich betrauern müßten. Und vielleicht, daß wir aus diesem Gedenken die Kraft zu dem Entschluß gewinnen können, durchzusetzen, daß, die wir heute im voraus beklagen, doch weiterleben, daß also das Furchtbare nicht geschehe.
Zu diesem Gedenken und zu diesem aus Trauer geborenen Entschluß bitte ich Sie, sich zu erheben.
(Abgeschlössen am 18. Oktober 1964)
—Günther Anders, »Hiroshima ist überall«, (München: C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, 1982), 393-394.